Odins Raben



Wie Odins Raben schwarz wurden
Lebendige Mythen - Wege zu den Göttern

Copyright Michaela Macha

Wie Odins Raben schwarz wurden

Es war einmal vor langer Zeit, als Odin unter den Zweigen von Yggdrasil ging, wie zwei Raben niederflogen und sich auf seine Schultern setzten. Der Rabe auf seiner linken war weiß wie die Nebel von Niflheim (denn damals waren alle Raben weiß), und in seinen Augen spiegelten sich die Wolken. Der Rabe auf seiner rechten glänzte in der Sonne wie die Schneefelder Jotunheims, und sah ihn mit hellen klaren Augen an. Und Odin nannte den Raben zu seiner rechten Hugin, das ist Gedanke, und den anderen nannte er Munin, das heißt Erinnerung.

Wie die Tage vergingen, glich der Raben Neugier auf alle Dinge in den Neun Welten der Wißbegier Allvaters. Sie flogen herum, horchten und beobachteten, was immer sie konnten, und jeden Abend kehrten sie zu Odin zurück und erzählten ihm alles, was sie in den langen Stunden des Tages gesehen und gehört hatten. Sie erzählten von den langsamen Gedanken der Berge, den bunten und sich ständig verändernden Erinnerungen der Menschen, und dem Lied in dem Herzen von allem, was lebt.

Und obgleich Odin sich an dem Wissen, das sie brachten, erfreute, hatte er doch stets das Gefühl, das noch etwas fehlte, und sagte dann: „Das war viel, aber nicht genug. Morgen müßt ihr wieder fliegen. Versucht jetzt zu ruhen.“ Und die Raben schliefen unruhig, nicht wissend, was noch fehlte, und jeden Morgen flogen sie wieder hinaus in die Welt.

Es kam einer von vielen Abenden nach einem weiteren langen Tag, an dem sie wieder einmal alles gesehen hatten, was Sunnas Schein zeigen kann, alle hellen Gedanken der Menschen in Midgard belauscht hatten und ihre wachen Erinnerungen gelesen hatten, als Hugin zu Munin sagte: „Wir können noch nicht zurück. Es ist nicht genug. Wir müssen weiter.“ Und sie flogen voran, in die Nacht hinein.

Und Hugin flog durch die dunklen Träume der Menschheit und hörte die Gedanken, die sie am Tage nicht zu denken wagten, nicht einmal vor sich selbst. Er schwang sich durch die schwarze Leere zwischen den Sternen, wo nichts ist, und weiter bis zur zwielichten Welt der Zukunft, wo sowohl nichts existierte als auch alles zugleich. Und als er zurückkam, waren seine Federn, von Flügel zu Flügel, so schwarz wie die Nacht.

Und Munin flog durch die Gedanken der Menschen in die düsteren Ecken und Keller, wo sie all die Dinge versteckten, die sie nicht mögen, sie wegschlossen und sagten: „Ich erinnere mich nicht.“ Er segelte durch die gähnende Leere Ginnungagaps, und weiter und weiter bis zur Asche Ragnaröks, die dieses Zeitalter vor dem nächsten verbirgt. Und als er zurückkam, waren seine Federn, vom Schnabel zum Schwanz, so schwarz wie Ruß.

Die Raben kehrten zu Odin zurück gerade vor Anbruch des Morgens, wenn die Nacht am dunkelsten ist, und wie sie sich auf seine Schultern setzten, wußte er alles, was sie gesehen hatten, und sie brauchten es nicht zu erzählen. Und Odin verstand, was all die Zeit gefehlt hatte, nickte, und sprach: „Es ist viel, und es ist genug. Für heute. Ihr könnt jetzt ruhen.“ Und die Raben blinzelten schläfrig in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die auf ihren - nunmehr schwarzen - Federn glänzte, steckten den Schnabel unter die Flügel, und schliefen sehr gut.

Seit dieser Zeit sieht man, daß alle Raben so schwarz sind wie ein Schatten in einer sternlosen Nacht. Sehr selten geschieht es, daß jemand einen Blick auf einen weißen Raben erhascht; und wenn Ihr jemals das Glück haben solltet, einen zu sehen, dann wißt ihr, daß ihr weitab vom Weg gewandert seid und zurück in das Land der Erinnerung, bevor die Raben schwarz wurden.

Michaela Macha - Asatru Ring Midgard - www.asatruringfrankfurt.de - Aufgeklärtes Asatru

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