Odins Auge



Odins Auge
Lebendige Mythen- Ein Weg zu den Göttern

Odins Auge

Er hatte auf die Nacht gewartet. In seinen Mantel gehüllt stand er zwischen den Bäumen. Sein Auge lag auf dem Feuer im Tal. Er hatte Geduld, seine Planung hatte schon vor Wochen begonnen. Die Raben hatten jede Bewegung des Riesen beobachtet und er hatte seit Wochen nicht die Quelle verlassen. Die Gestalt am Feuer saß vornübergebeugt und regte sich nicht, langsam brannte das Feuer niedriger. Der Moment zum Handeln war gekommen.
Die Deckung des Waldes ließ er hinter sich und schlich den Hügel hinab. Je näher es kam desto vorsichtiger wurden seine Schritte. Er hörte den schweren Atem des Riesen und spürte ihn auf seiner Haut. Die Quelle lag zum Greifen nahe. Eine Bewegung im Augenwinkel. Der Riese schnellte hoch, seine Pranke packte nach ihm. Er drehte sich weg im letzten Augenblick. Die Pranke traf ihn nicht mit voller Wucht. Mit schnellen Schritten entfloh er der Wut des Riesen, der hinter ihm in der Dunkelheit. Es war nur ein Geplänkel, denn der Kampf hatte erst begonnen.

Dieser Mimir hatte sich wie erwartet als würdiger Gegner erwiesen. So ließ er einige Tage ins Land streichen bevor er seinen nächsten Schritt in die Tat umsetzte. Er schlang den Mantel um sich und daraus wuchsen Federn. Er schlug mit den starken Schwingen eines Adlers. Seine Form wandelte bis er einem Adler zum verwechseln ähnlich sah. Mit schnellen Flügelschlag erhob er sich in die Lüfte. Er hatte sich für eine andere Perspektive entschieden. Die Quelle war am Rande blau und wurde zur Mitte hin schwarz. Im warmen Wind des Morgens schraubte er sich höher und höher. Er kreiste um die Quelle und beobachte den Riesen, der seine Füße am Rande badete.
Odin wartete. Er verlagerte das Gleichgewicht, zog die Flügel an den Körper und stürzte der Erde entgegen. Der schmale Punkt der Quelle wurde immer größer und größer. Es füllte sein ganzes Blickfeld. Ein Hagel aus Steinen empfing ihn. Einer streifte ihn und brachte ihn ins trudeln. Mit einer scharfen Kurve entging er weiteren Treffern. Der Riese hatte nun seine volle Aufmerksamkeit.

Drei Tage gingen ins Land. Odin suchte am frühen Morgen die Quelle auf. Der Riese baute sich zu seiner vollen Größe auf und ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. Leicht überragte er Odin um mehrere Köpfe.
Odin der Ratgebende such mich Mimir den Riesen auf. Was willst Du?
Du weißt warum ich hier bin.
Es gab da einen, der sich versuchte an mir vorbei zu schleichen und einen Adler, der dasselbe versuchte und jetzt kommst du daher. Das Wasser meiner Quelle der Weisheit erweckt das Verlangen vieler.
Rede nicht um den heißen Brei herum, nenne deinen Preis.
Der mächtige Odin als Bittsteller, ein echtes Vergnügen. Ich will ein Stück von Dir.
Sei nicht vermessen, das nächste Mal kann ich auch Thor bitten mich zu begleiten.
Der Riese blickte sich nervös um. Nun ein Auge wird es auch tun.
Du willst eines meiner Augen, für einen Schluck Wasser.
Odin drückt auf sein Auge bis es aus der Augenhöhle tritt und schließlich in seine Hand fällt.
Der Riese tritt zur Seite. Nimm deinen wohlverdienten Schluck.
Odin beugt sich nach unten und die Hand füllt sich mit kühlem Wasser von dem er gierig trank.
Die wahre Weisheit liegt im Blick in die Quelle und nicht im Schluck, Odin.
Ich weiß.
Odin dreht sich zu Mimir um und wirft das Auge in die Quelle. Langsam versinkt sie im klaren Wasser hinein in die Dunkelheit.
Der Riese greift nach dem Auge, das langsam tiefer in den Brunnen sinkt. Das Wasser spritzt nach allen Seiten, seine Hände bekommen nur Wasser zu fassen. In stummer Wut blickt er zu Odin auf.
Odin beobachtet ihn mit seinem einem Auge.
Es ist vollbracht. Nun kann ich in beiden Welten sehen. Man muss Weisheit benutzen, nicht hüten!

Michael Schütz

Michael Schütz - Asatru Ring Midgard - www.asatruringfrankfurt.de - Aufgeklärtes Asatru

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