Asatru in den Trompen
Douglas K. Godoy-Araujo -Asatru Ring Frankfurt & Midgard
Belo Horizonte, Brasilien
Ich bin ein Asatru, nunmehr seit fast 14 Jahren, lese die Edda und andere Texte, die mir die
Glaubensinhalte und Ethik des Asatru näher bringen, und halte die
Vorstellungen, die in diesen Texten auftauchen, für mich verbindlich. Es
gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Ich wohne nicht in
Deutschland, den USA oder England. Ich bin ein Brasilianer. Ich bin im
AsatruringFrankfurt & Midgard zusammen mit Australiern, Amerikanern und
Deutschen
Dass meine Nationalität kein Problem sein sollte, wissen wir alle. Echte
Asatru glauben nicht daran, daß die Abstammung oder der Wohnort die
Zugehörigkeit zu unserem Glauben einschränkt. Daher ist dies für mich
(und andere brasilianische Asatru) kein Problem. Aber manche Fragen
bleiben offen, die doch damit zu tun haben und im praktischen Bereich
liegen, nämlich im Ritual- und Alltagsleben. Wie kann ich
jahreszeitliche Riten begehen, wenn das, was gerade auf der
Nordhalbkugel gefeiert wird, mit der bei uns herrschenden Jahreszeit gar
nicht zusammen passt ? In meinem brasilianischen Bundesstaat (und im
fast ganz Brasilien) haben wir überhaupt nur zwei Jahreszeiten,
Regenzeit (Oktober bis April) und Trockenzeit (Mai bis September). Oder
wie soll ich meinen Kindern (die, wie ich hoffe, bald kommen :-)), in
Brasilien eine Esche zeigen? Fragen wie diese sind es nur Beispiele für
das alltägliche Dilemma, in dem ich mich auf dieser Seite der Welt
befinde.
Nach reiflichem Nachdenken darüber bin ich zu dem Schluß gekommen, dass
das Leben als Asatru in zwei Ebenen geteilt ist. So haben wir eine
Ebene, in der Asatru als eine Sammlung von verschiedenen und komplexen
Ideen steht, und eine andere, kleinere Ebene, die eine Filtrierung und
Umsetzung dieser Ideen ins alltäglichen Leben ist. Es ist nicht schwer
zu erkennen, dass die in der Edda und anderen Asatru-relevanten Texten
dargestellte Welt (und alles drauf vorkommende, wie Natur, Jahreszeiten,
Tiere, Bäume, usw.) sehr weit entfernt von der konkreten Welt in den
Tropen ist, und es würde natürlich ein grosser Abstand zwischen den
beiden Ebenen entstehen. Dieser Abstand der zweiten Ebene zur ersten
würde so noch größer als eh schon, weil wir nicht nur (wie alle Asatru
weltweit) in einer ganz anderen Zeit leben wie die alten Skandinavier
(nämlich rund 1000 Jahre später), sondern auch in einer ganz anderen
Umgebung. Ist es denn wirklich so? Können moderne Asatru nicht in den
Tropen wohnen oder daher stammen?
Asatru war nicht, wie manche Leute denken, eine Erfindung der Wikinger.
Diese Bevölkerungsschicht war lediglich ein weiteres Glied in der Kette
von mehreren Völkern germanischer Herkunft, die dieselbe grundlegenden
Vorstellungen von den Göttern hatten. Aus den Vorstellungen dieser
Völker entstammen die späteren Schriftstücke, in denen Inhalte des
Glaubens wie auch deren alltägliche Anwendung zur Sprache kommen.
Es ist selbstverständlich, dass jedes Volk damals seine eigenen
Besonderheiten im Bereich der religiöse Theorie und Praxis hatte. Die
Schweden, die Norweger, Isländer, die Südgermanen und die in
ferne Länder bis nach Byzanz, Rußland und Amerika ausgewanderten
Germanen hatten alle ihre unterschiedlich geprägten Vorstellungen von
den Göttern, Festen und Ritualen. Sogar zwischen Angehörigen derselben
Sippe gab es deutliche Unterschiede, z.B. in dem individuellen
Verhältnis des einzelnen Menschen zu bestimmten Göttern wie Thor, Odin
oder Frey. Das heißt, "den" alten Glauben gab es nicht!
Für uns heutzutage heißt das konkret: Auch wir sind nicht verpflichtet,
einen "Standard"-Glauben leben zu sollen, den es auch vor 1000 Jahren
nie gab. Alle diesbezüglichen Versuche sind Konstrukte des
(Wunsch-)Denkens und gehen an der damaligen wie der heutigen Realität
vorbei. Noch viel weniger sind wir verpflichtet, im Glauben so zu tun,
als wäre unsere Welt, Kultur und Technik auf dem Stand von vor 1000
Jahren stehen geblieben. Daß die alten Skandinavier ihren Glauben
behielten, wo immer in der Welt und auf welchem Kontinent sie sich auch
ansiedelten, zeigt schon, daß weder Glaube noch Götter an irgendwelche
Grenzen, Umgebungen oder Klimazonen gebunden sind.
In der Tat haben wir eine doppelte Freiheit in der Ausübung von Asatru:
Erstens sind wir Individuen in ganz unterschiedlichen Gesellschaften -
deshalb sollen und müssen wir die Ausübung von Asatru an unsere
jeweilige Umgebung anpassen, anstatt vergeblich zu versuchen, eine
fiktive reine Religion
der "Wikinger" zu leben.
Die andere und eigentlich wichtigere Freiheit ist die, dass wir als
Asatru keineswegs verpflichtet sind, etwas zu glauben oder zu machen,
ohne zu nachzudenken, ob es für uns als Individuen richtig ist. Wir
legen Wert darauf, eigenständig zu denken und verantwortliche
Entscheidungen zu treffen, und sind deshalb aktiv in unseren
Religionserfahrungen.
Auch aus diesem Grund habe ich mich entschieden, Asatru zu sein. Dass
ich in Brasilien, nicht in Norwegen, Deutschland oder Island geboren bin
und da auch lebe, ist für mich kein Hindernis, ein gutes und erfülltes
Leben als Asatru zu führen. Vielmehr sehe ich es so, dass mein Erleben
eine Bereicherung der Vielfalt der Asatru-Landschaft ist.
Viva la Unterschied!
© Douglas K. Godoy-Araujo - Michael Schütz – Asatru Ring Midgard – www.asatruringfrankfurt.de
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